Berlin,
 
Konfuzius sagt:
Wenn ihr einen Ort besucht
Und verstehen wollt, welche Kultur dort herrscht,
welche Tiefen und Oberflächlichkeiten dort vorhanden sind,
dann hört euch die Musik an, die dort gemacht wird.

Ihr werdet alles über diesen Ort erfahren.

INHALT


ALEXANDER HACKE, seit über 20 Jahren Mitglied der Band EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN, kam im Zusammenhang mit einer Musikproduktion für den Film GEGEN DIE WAND erstmals in Kontakt mit der Stadt und ihrer Musik. Bei dieser Gelegenheit lernte er die Mitglieder der neopsychedelischen Istanbul-Band BABA ZULA kennen. Als diese den Verlust ihrer Bassistin zu beklagen hatten, wurde Alex Hacke gebeten einzuspringen.
FATIH AKIN
begleitet Alexander Hacke bei dieser Mission mit der Kamera und portraitiert Istanbuls lebendige Musikszene, deren Musik überall in der Stadt präsent ist und die von ihren Einwohnern heiß geliebt wird. Hackes ‚Home-Base’ ist das ehrwürdige Büyük Londra Oteli (Grand Hotel de Londres) im Stadtteil Beyoglu, dem vielleicht ‚europäischsten’ Flecken der Türkei. Von hier aus geistert Hacke durch eine fremdartige, widersprüchliche, gegensätzliche, quirlige und verführerische Welt, sammelt Eindrücke und Tonspuren und lässt sich im unaufhaltsamen Strom einer Mega-Stadt treiben, die unzählige Gesichter zu haben scheint. Doch die Vielfalt und Kraft dessen, was ihm begegnet, ist überwältigend. Keine Festplatte und kein Film kann all die Bilder und Töne dieser Stadt in all ihren Facetten wiedergeben. Mit dieser Erkenntnis kehrt der Held schließlich heim, mit einem Schatz im Gepäck, den es nun auszuwerten und an den Mann zu bringen gilt.

 BUCH UND REGIE FATIH AKIN


Fatih Akin, 1973 in Hamburg geboren, interessiert sich für Film solange er denken kann. Anfangs wollte er Schauspieler werden und übernahm ab 1993 immer wieder kleinere Rollen in Kino- und TV-Produktionen. Da er sich jedoch weder auf einen Rollentypus noch auf eine feste Berufswahl festlegen wollte, begann er ein Jahr später an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg Film zu studieren. 1995 präsentiert er zusammen mit der WÜSTE Filmproduktion SENSIN-DU BIST ES! seinen ersten Kurzfilm und startet damit seine ungebrochen erfolgreiche Karriere als Regisseur und Drehbuchautor. Seit 2002 ist Akin auch Produzent: Seine Firma CORAZÓN International coproduzierte "Gegen die Wand", der auf den Filmfestspielen Berlin 2004 als erster deutscher Film seit 18 Jahren den Goldenen Bären erhielt und in der Folgezeit u. a. mit fünf deutschen und zwei europäischen Filmpreisen ausgezeichnet wurde.
Ein Kilo Heroin, das aus Opium im Wert von 4.000 Dollar gefördert wurde, bringt in New York 75.000 - 100.000 Dollar ein. Es wird dann in eine »Drogenmühle« gebracht, wo es mit verdünnenden Substanzen gestreckt und in ca. 35.000 Briefchen à zehn Dollar verpackt wird. Auf der Straße ist das ursprüngliche Kilo jetzt 350.000 Dollar wert. Geschätzte Summe, die Amerikaner jährlich für Kokain und Heroin ausgeben: 46 Millarden Dollar. Das Ganze ist also Kapitalismus pur.
 DIE MUSIK


Für die Mitglieder der neo-psychedelic Band BABA ZULA, bei der Alex Hacke als Bassist aushilft, liegt Istanbul weder im Westen noch im Osten. In ihrer langen Geschichte wurde die Stadt von vielen ethnischen Einflüssen geprägt. Das zieht sich bis in die Moderne, und wer zwischen Zeki Müren und Pink Floyd aufwächst – und beides nicht besonders mag – dem bleibt nichts anderes übrig, als seinen eigenen Weg zu suchen. So versinnbildlicht der Bosporus, die Meerenge, die Asien von Europa trennt und von der man sagt, sie sei durch die Sintflut entstanden, die Zerrissenheit zwischen den Kulturen.

Für die Mitglieder des Projekts
ORIENT EXPRESSIONS ist Istanbul zwar geopolitisch die Nahtstelle zwischen Ost und West, aber von dem daraus beschworenen ‚Civilisation-Clash’ wollen sie nichts wissen. Dass der Orient in Indien beginnt und in Istanbul endet, der Okzident in Istanbul beginnt und in Los Angeles endet und sich beide Welten in Istanbul treffen, ist für sie ein ideologischer Mythos, der allenfalls dazu taugt, Feindbilder aufrecht zu erhalten. Dem halten sie ihr musikalisches Konzept entgegen. ORIENT EXPRESSIONS, das sind zwei Istanbuler DJs, ein amerikanischer Saxophonist, ein Saz-Virtuose und wechselnde Sängerinnen. Die DJ-Kultur war in der Türkei noch bis vor kurzem ein Importphänomen. In letzter Zeit haben Leute wie DJ YAKUZA und MURAT UNCUOGLU das Kommando an den Plattentellern der Stadt übernommen und ihren eigenen Stil durchgesetzt. Den üblichen Loops und Beats fügen sie die mystische Tiefe der ostanatolischen Musik hinzu und kreieren einen Sound von fröhlicher Melancholie, den sie nun regelmäßig über die Sendeantenne von RADIO OXYGEN in die Stadt strahlen dürfen

Rockmusik ist in der Türkei bis heute ein Ausdruck von Rebellion. Anders als im Westen, wo der Rock mittlerweile längst zum Massenphänomen mutiert ist und sich unendlich zersplittert hat, erinnert er dort in Attitüde und Akzeptanz an die Gitarrenmusik der 70er Jahre. Vor allem in Beyoglu wird das im Straßenbild sichtbar, an wohl keinem anderen Ort der Welt laufen noch so viel Langhaarige herum. Bei
DUMAN ist noch eine gute Portion Punk im Spiel, aber sie stehen voll und ganz in der Tradition des ‚Turkish-Rock’. Beeinflußt von ihren Hippie- und Heavy-Vätern formierten sie sich früh und traten schon als Halbwüchsige in Bars auf, damals noch mit englischen Texten.

Die
REPLIKAS spielen Rock der feineren Art, Gitarrenmusik der intellektuelleren Sorte. Die Mitglieder der Band stammen aus eher bürgerlichen Verhältnissen und sind nicht viel anders aufgewachsen, als entsprechende Altersgenossen in Europa. Eine westliche Orientierung bestimmte den Alltag und die Einflüsse aus dem eigenen Land wurden mehr oder weniger ignoriert. Erst mit etwa 20 Jahren entwickelten sie ein Bewusstsein für die eigenen Wurzeln. Diese Erweckung schuf ein neues Identitätsgefühl, auf dem ihre Musik heute aufbaut. Außer in den Texten ist der orientalische Einfluss auf den ersten Blick kaum zu erkennen.

   

Noch bis vor 15 Jahren wurden in der Türkei von besorgten Kulturbewahrern Konferenzen darüber abgehalten, ob türkischer Rock möglich ist. Da hatte ERKIN KORAY schon längst den Beweis erbracht. Als er Mitte der 60er Jahre auf der Bildfläche erschien, war er einer der Ersten, der türkische Musik auf elektrisch verstärkten Instrumenten spielte. Andersherum coverte er die ‚Beatles’ und die ‚Stones’ mit türkischem Instrumentarium und gab den Provokateur und Paradiesvogel.

Auf der asiatischen Seite, gegenüber des Goldenen Horns, liegt der Stadtteil ‚Kadiköy’, neben ‚Bakirköy’ eine Hochburg des Hip-Hop in Istanbul. Wer den Bosporus überquert und erwartet, ein heruntergekommenes Viertel zu sehen, einen sozialen Brennpunkt, in dem sich eine neue Jugendbewegung formiert hat, sieht sich getäuscht. Inmitten einer eher adretten Gegend mit kleinstädtischem Flair und tollen Ausblicken auf das sich öffnende Marmarameer liegt ein kleiner Laden, der hippe T-Shirts verkauft und im Keller ein Tattoo-Studio beherbergt. Das ist die Home-Base von CEZA (die Strafe) und seiner ‚Posse’. CEZA, die türkische Antwort auf ‚Public Enemy’, ist ein sehr ernsthafter junger Mann, der mit den Posen und Attitüden amerikanischer ‚Gangsta-Rapper’ nichts am Hut hat.

Während sich die Kadiköy-Gang als Freundeskreis versteht, sieht sich die Szene von Bakirköy als Underground. Dieser Stadtteil ist mehr ‚Suburb’ und hier leben viele Menschen, die aus Anatolien nach Istanbul gekommen sind. Die ISTANBUL STYLEBREAKERS sind eine lose Vereinigung von Jugendlichen, die sich dem Breakdance verschrieben haben.

Der digitale Derwisch MERCAN DEDE ist zur Zeit einer der angesagtesten Künstler der Weltmusik-Szene, der wie kein anderer türkischer Musiker moderne Clubsounds mit traditioneller Sufimusik verbindet. Mit der Rohrflöte ‚Ney’ geht er genauso virtuos um wie mit Soundmaschinen und Computern. Er hat ein untrügliches Gespür für die Virtuosität und Stimmigkeit der ihn begleitenden Instrumentalisten. Das Ensemble, mit dem er 2004 auf Welttournee war, besteht aus Einzelkönnern, die er im Laufe der Zeit um sich geschart hat. Sein Klarinettist ist ein erst 16jähriger Roma-Junge, an dem Benny Goodman und Ornett Coleman ihre helle Freude gehabt hätten.

Es gibt Menschen, die werden als Musiker geboren. Irgendwann als Kind bekommen sie ein Instrument in die Hand und bringen es auf ihm unweigerlich zur Meisterschaft. So ein Mensch ist SELIM SESLER, und das Instrument, das ihm in die Kinderhände fiel, war eine Klarinette. Selim ist Roma und stammt aus ‚Kesan’, einer kargen Kleinstadt in ‚Thrakien’, dem Teil der Türkei auf dem europäischen Kontinent, etwa 250 Kilometer westlich von Istanbul.

Die kanadische Folk-Sängerin BRENNA MacCRIMMON hat Istanbul unter der Haut. Sie lebte einige Jahre hier, singt und spricht perfekt türkisch. Ihre tiefe Liebe zu dem Schmerz und der Fröhlichkeit der türkischen Musik ließen sie zu einer anerkannten Interpretin werden. Alles begann mit einer Kassette, die ihr ein Bekannter schenkte, Aufnahmen aus den 50’er und 60’er Jahren von türkischen Musikern aus Bulgarien.Mittlerweile lebt Brenna wieder in ihrer Heimat, doch sie bekennt, dass sich jede Rückkehr nach Istanbul wie eine Heimkehr anfühlt.

   

Die SIYASIYAs sind keine Band, wie der Name vielleicht vermuten lässt (SIYASIYABEND ist der Name eines mesopotamischen Volkshelden), eher eine Clique von Underdogs, die sich der Straßenmusik verschrieben haben. Die Gassen, Fußgängerzonen und Plätze Beyoglus sind ihre Bühne und die Passanten ihr Publikum. Es geht weniger um das Musizieren zum Broterwerb, es ist nicht so wichtig, wie viel Kleingeld im aufgeklappten Gitarrenkoffer landet. Die Mitglieder der SIYASIYABEND haben eine aufklärerische Mission, sie wollen aufrütteln, die Zustände anklagen und ihre Vision einer besseren und gerechteren Welt unter die Leute bringen.

Es ist noch nicht allzu lange her, da war es den Kurden und anderen ethnischen Minderheiten in der Türkei verboten, ihre Sprache und Kultur zu verbreiten. Die paranoide Angst des türkischen Staates vor kultureller Unterwanderung und separatistischen Tendenzen zwang vor allem die Kurden dazu, ihre Identität im Geheimen zu pflegen und führte in Kurdistan zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Die absurde Diskriminierung und Verfolgung, die die so unterschiedlichen Volksgruppen im Vielvölkerstaat Türkei auf ein Einheitsmaß zwingen wollte, gehört mittlerweile der Vergangenheit an. Beschämend ist nur, dass die Liberalisierung nicht der inneren Überzeugung der Machthabenden zu verdanken ist, sondern dem politisch krampfhaft gewollten Annäherungsprozess an die Europäische Union.
Die Sängerin und Musikerin AYNUR nutzt die neuen Freiheiten, die Tradition ihres Volkes selbstbewusst zu repräsentieren und der kurdischen Musik ein modernes Gesicht zu verleihen. Ihre Songs sind Epen und Klagelieder eines unterdrückten Volkes und Ausdruck eines gelebten Schmerzes, eine Art orientalischer Gospel. Es ist der ‚Dengbejen’, eine uralte Kultur, die von anatolischen, mesopotamischen und sogar jüdischen Einflüssen geprägt ist.

ORHAN GENCEBAY ist in der Türkei einer der größten Stars überhaupt, der Elvis der ‚Arabesque-Musik’, der Held der Taxifahrer, die Ikone des Volkes. Seit den 60er Jahren hat er Millionen von Platten verkauft und war ein beliebter Leinwandheld der damals noch florierenden türkischen Filmindustrie. Sein Instrument ist die Langhalslaute, die Saz, von denen er eine ganze Sammlung sein eigen nennt. Die mächtigste von ihnen trägt seinen Namen und auf ihr hat er all seine Lieder komponiert. Sie ist ein Teil von ihm, sein Geheimnis. Und er bringt es auf diesem Instrument zu wahrer Meisterschaft, niemand hat die arabeske Musik so intensiv weiterentwickelt wie ORHAN GENCEBAY auf seiner Saz

   

Als Istanbuler Dame bezeichnet sich MÜZEYYEN SENAR, eine der letzten ihrer Art. Ihre Stimme und sie sind 86 Jahre alt. Auf dem Dorf geboren, kam sie mit 10 Jahren in die Stadt und wuchs in ‚Üsküdar’ auf, am Fuß der Brücke auf der asiatischen Seite. Bis zu dieser Zeit stotterte sie und flüchtete sich in das Singen. Sie wurde entdeckt und bekannt, hatte 1933 ihre Bühnenpremiere und nahm noch im selben Jahr ihre erste Platte auf. Sie war ein Radiostar, verkehrte in den 30er Jahren mit Atatürk und in den 40ern in der feinen Gesellschaft des damals noch noblen Beyoglu, als es noch das ‚französische Viertel’ war. Die Zeugnisse ihres Lebens zeigen Bilder von einem mondänen Istanbul, die aus jeder anderen westlichen Metropole stammen könnten, Bilder aus längst vergangenen Zeiten, deren Verlust die einstige Grande Dame bitter beklagt.

Die Stimme Istanbuls wird SEZEN AKSU genannt. In ihrer Stimme finden sich die Menschen aller Schichten und Generationen des Landes wieder und selbst im fernen Deutschland hat so manches Emigrantenkind bei Sehnsucht und Liebeskummer zu ihren Liedern in die Kissen geweint. Seit ihren Anfängen in den 70er Jahren wird sie wie eine Göttin verehrt und ist weit über die Grenzen der Türkei hinaus bekannt. Es muss an ihrer Art zu singen liegen, wie sie jedes Wort in den Liedern voller Herz betont, um deren Seele richtig auszudrücken. Sie hat viele Lieder über Istanbul gesungen und komponiert. In dem Song ‚Istanbul Hatirasi’ (Erinnerungen an Istanbul) singt sie von einem vergangenen Istanbul, das sie selbst nie erlebt hat. Die passenden visuellen Eindrücke vermitteln die expressiven Schwarzweiß-Fotos des Fotografen ARA GÜLER, der Mitte des letzten Jahrhunderts der führende Chronist der Stadt war.

Land/Jahr: D 2004
Regie: Fatih Akin
mit : ALEXANDER HACKE, BABA ZULA, ORIENT EXPRESSIONS, DUMAN, REPLIKAS, ERKIN KORAY, CEZA, ISTANBUL STYLE BREAKERS, MERCAN DEDE, SELIM SESLER, BRENNA MacCRIMMON, SIYASIYABEND, AYNUR, ORHAN GENCEBAY, MÜZEYYEN SENAR, SEZEN AKSU
Drehbuch: Fatih Akin
90 Min. FSK:
Der Soundtrack zum Film erscheint am: 06.06.2005 Erhältlich bei Warner Music

Links zum Film

http://www.crossingthebridge.de/
"Wehmut am Wickeltisch" sueddeutsche.de von TOBIAS KNIEBE 13.05.
http://www.neubauten.org/b_alex.php
http://www.babazula.com/
http://www.sezenaksu.net/
   
 
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Various
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Istanbul
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