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Reise
nach Kandahr
Iran 2001, 35 mm,
Regie: Mohsen Makhmalbaf
Darsteller: Nafas: Nelofer Pazira Tabib Sahib: Hassan Tantaï Khak:
Sadou Teymouri
Länge: 85 min
Drehbuch Mohsen Makhmalbaf
Kamera Ebraham Ghafouri
Original-Musik: Mohamad Reza Darvishi
Die Journalistin Nafas (Nelofer Pazira) erhält
im kanadischen Exil einen Hilferuf ihrer jüngeren Schwester und kehrt
nach Afghanistan zurück. Ihre Suche führt sie von der iranisch-afghanischen
Grenze ins Reich der Taliban...
Mohsen Makhmalbaf wurde am 29. Mai 1957 in einem
Armenviertel im Süden Teherans geboren. Hier
wird er später die Themen für seine Filme finden. Kurz nach seiner
Geburt verlässt der Vater die Familie und die Mutter ist gezwungen,
die Familie allein zu ernähren. Die Erziehung übernimmt Mohsen Makhmalbafs
Grossmutter, eine sehr fromme, gläubige Frau. Im Alter von fünfzehn
Jahren ist Mohsen Makhmalbaf für den Unterhalt der Familie verantwortlich.
Er verlässt das Gymnasium und sucht Arbeit. Unter dem Einfluss seines
Stiefvaters beginnt er, sich politisch gegen das Schahregime zu engagieren.
1974 greift er als 17jähriger einen Polizisten an, um ihn zu entwaffnen.
Er wird verhaftet und für mehrere Jahren gefangengehalten. Erst
zum Zeitpunkt der islamischen Revolution im Jahr 1979 wird er freigelassen.
Nach 1980 wendet er sich von der Politik ab und konzentriert sich
auf die Kunst. Er veröffentlicht Theaterstücke, Novellen und einen
Roman. Gleichzeitig beginnt er, sich fürs Kino zu interessieren.
1982 realisiert er seinen ersten Film "Nassuhs Reue". Zu diesem
Zeitpunkt hat er noch nie einen Fuss in ein Kino gesetzt. Seither
begleitet Moshen Mahkmalbaf mit seinem Filmschaffen kontinuierlich
die gesellschaftliche Entwicklung im Iran. Intuitiv und mutig (mehrere
seiner Filme fallen der Zensur zum Opfer) kommentiert er die Gegenwart
mit konstruktiver Schärfe. Sowohl modern und einfallsreich, als auch
poetisch und fabulierend kreisen seine Filme um Wahrheit und Legende,
Aufrichtigkeit und Intrige und entlarven die Beziehungen zwischen
den Menschen, die Macht ergreifen, und jenen, die sich unterwerfen.
Mohsen Makhmalbafs Filme sind beim iranischen Publikum (das prinzipiell
sehr kinofreudig ist) sehr beliebt.
Der Regisseur Abbas Kiarostami hat sogar seinen Film "Close-up"
auf der Person Makhmalbafs aufgebaut: ein arbeitsloser Filmliebhaber
gibt sich als Mohsen Makhmalbaf aus und verschafft sich unter dem
Vorwand, einen Film zu drehen, Zugang zu einer bürgerlichen Familie
im Norden Teherans. Heute gilt Mohsen Makhmalbaf als einer der bedeutendsten
und populärsten iranischen Regisseure, der auch international bekannt
und anerkannt ist. Das "Cinéma Utopia" in Paris und das "Festival
International de La Rochelle" widmeten ihm 1992 und 1993 eine Hommage.
1994 war Mohsen Makhmalbaf Mitglied der Jury beim Filmfestival in
Locarno. |
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A
Journey to the land of black turbans |
Sich auf eine Reise ins Land der schwarzen Turbane
zu begeben ist wie ins Ungewisse zu springen. Es ist eine Reise
ins Irrationale, ins Unverständliche. Es kommt einem so vor, als ob
man beim Überqueren der afghanischen Grenze den Verstand aufgeben
müsste. Das Afghanistan, das Mohsen Makhmalbaf zeigt ist keine Fälschung:
Es ist einen Abstieg in die Dunkelheit, eine Expedition in eine andere
Welt, eine Welt von einer anderen Zeit, wo die manchmal magische Parabel
die traurige Wirklichkeit hervorhebt. Nafas, eine afghanische Frau,
die sich in Kanada niedergelassen hat, kehrt in ihr Land zurück, um
ihre Schwester zu retten, die droht, sich vor der nächsten Sonnenfinsternis
das Leben zu nehmen.
Auf dem Weg, in den Dörfern, den Weilern, auf den staubigen Strassen,
spricht Nafas ihren Reisebericht auf Band. Wir folgen unserem
Erzähler auf diesem Feldzug in das Reich der Verrücktheit, auf ihrem
Weg nach Kandahar, die heilige Stadt und Geburtsstätte von Gottes
Narren. Alles im Film ist gesegnet: Gesang, Musik, Video, Fotografie,
Malerei, jedes Bild des Menschen. Man trifft Kinder in einer madras,
einer Koranschule, Tutoren eines radikalen Dogmas, eine Armee von
Krüppeln aus den Kriegszeiten, Jahre des Wahnsinns.
Auf den sandigen Hügeln und windverwehten Dünen trifft man auch
auf das Gespenst Pasolinis mit Bildern aus "Tausend und einer
Nacht". Doch es ist "Tausend und einer Nacht" mit einer Todesbotschaft!
Ein Orient, der bis danhin in bezug auf seinen Paroxysmus und seiner
tödlichen Spirale, seinem suizidalen Drang unbekannt ist. Als die
Taliban im September 1996 in Kabul an die Macht kamen, versprachen
sie eine Herrschaft der Reinheit. Für eine Weile applaudierten die
Kabulis, zufrieden zu sehen, dass Schwindler und andere kleine Banditen
- high von Haschisch - vor den Mullahs flüchteten. Doch bald verloren
die Afghanen ihre Illusionen. Taleb heisst Theologiestudent. Diese
Studenten, oft Analphabeten, wurden zu den schlimmsten vorstellbaren
Feinden der Kultur, vor allem der afghanischen Kultur, die Toleranz
und Gastfreundschaft stützt. Afghanistan wurde zu verschiedenen Arten
von Verboten verurteilt. Was folgte, war das Reich der Stille. Reinheit?
Diese kann in der Tat sehr einfach gefunden werden - z.B. im Handel
mit Opium, die Quelle des Heroins. Dessen Felder von roten und weissen
"Corollas", die von den Taliban bis im letzten Jahr vor der Dürre
angepflanzt wurden sind zum Thron der grössten Drogenhändler der Welt
geworden.
Die Strassen der Städte werden von 3800 religiösen Milizagenten
patrouilliert, die Gefolgsmänner des Ministry for the Promotion
of Virtue and the Repression of Vice. Wie Tyrannen, schlagen sie jene,
welche die Gebetszeiten vergessen, oder jene mit zu kurzem Bart -
weniger als eine Hand lang -, und Frauen, die sich trauen, auch nur
ein Millimeter ihres Körpers zu enthüllen oder mehr als eine Spur
Make-up zwischen ihren Netzschleiern hindurch schimmern zu lassen.
Dann entschlossen sich die Anführer der Miliz, die Vergangenheit auszulöschen
und die Statuen zu zerstören. Die Buddhas, die grössten auf der Welt,
sollten ausgelöscht werden, um die Vergangenheit zu entwurzeln und
einen neuen dem Dogma unterworfenen Mensch zu erfinden, in diesem
Land von 20 Millionen Seelen, wo über eine Million Leute den Tod fanden.
Die Taliban - Idolzerstörer - wollen in die Erinnerungen eindringen.
So ist alles was man antrifft, wenn man bei Einbruch der Nacht
durch die Städte von Talibanistan wandert, in diesem antiken Land
von Worten, Erzählungen und der mündlichen Überlieferung - den Rittern
von Kessel lieb -, die Stille, nichts als die Stille, das Produkt
der Angst. Mohsen Makhmalbafs schöner, reiner Film, fein gestimmt
wie die Saiten einer verbotenen Violine, ist ein erschütterndes Plädoyer,
das einen Schrei ausstösst wie ein Hilferuf. Ein Plädoyer für Frauen,
verdammt zu den Fenstern ihrer burkas, das afghanische Kleid, dieses
Baumwollgefängnis, diese Zitadelle der Einsamkeit. Ein Plädoyer für
die Amputierten, die Truppen von Krüppeln, verwundet von den Minen
- diese feigen Waffen, die noch lange nach dem Schweigen der Kanonen
weiter zuschlagen - und den Fallschirmen der internationalen Hilfe
entgegenhumpelnd.
Ein Plädoyer gegen den theokratischen Totalitarismus, den religiösen
Stalinismus, der in diesem vergessenen Land wütet. Nafas: "Ich
steckte meine Seele in diese Reise." Dies wird vom ausgeschnittenen
Dreieck widergespiegelt, das ihre Blicke führt - es ist die Einkerkerung
eines ganzen Landes. Jegliches Hoffnungsgefühl ist vernichtet. Als
ob die Seelen zu ewigem Umherirren verurteilt wären, im afghanischen
Sand und in den Bergen, Festungen des Nichts. Die Mönch-Soldaten haben
die Träume verbannt. Die schwarzen Turbane haben die Liebe getötet.
(Olivier Weber) Olivier Weber ist Journalist, Schriftsteller, Autor
von "On ne se tue pas pour une femme". Seine letzte Arbeit ist ein
Reisebericht über Afghanistan: "Le Faucon Afghan, a journey to the
kingdom of the black turbans" (Rober Leffon, September 2001).
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Mohsen Makhmalbaf 1982 TOBE-JE NASSUH (Nassuhs Reue);
ESTEASEH (Um Hilfe flehen)1983 DO TSCHESCHME JE BIRUH (Zwei blinde
Augen)1984 BAIKOT (Boykott)1987 DÄSTFORUSCH (Der Strassenhändler)1988
BAISIKELRAN (Der Radfahrer)1989 ÄRUSSI JE CHUBAN (Hochzeit der Auserwählten)1990
NOBÄT E ASCHEGHI (Zeit der Liebe); SCHÄBHA-JE SÄJANDERUD (Nächte am
Säjanderud)1991 NASSEREDIN SCHAH (König Nasseredin)1992 HONÄRPISCHE
(Der Schauspieler)GOSIDEH TÄSWIR DÄR DORAN-E GHADSCHAR (Bilder aus
der Ghadschar-Zeit), Kurzfilm1993 SÄNG'G WÄ SCHISCHEH (Stein und Glas)
Kurzfilm1994 SALAM CINEMA 1995 GABBEH1996 NUN O GOLDUN (Brot und Blumentopf)1998
THE SILENCE2000 TESTING DEMOCRACY2001 KANDAHAR Mohsen Makhmalbaf schrieb
auch die Drehbücher zu THE APPLE, BLACKBOARDS und THE DAY I BECAME
A WOMAN. Eine sehr umfangreiche Website von Mohsen Makhmalbaf finden
Sie unter http://www.makhmalbaf.com/
Makhmalbaf Film House
Kandehar (Fotos, Interviews, Sound-/Videosamples, Dialoge)
The Internet Movie Database (IMDb).
Kandahar (2001)
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