Berlin,
 

Gespenster

Der neue Film von  Christian Petzold


Der Film spielt in Berlin, auch wenn es auf dem ersten Blick nicht erkennbar ist und nur der Eingeweihte die eine oder andere Ecke wiedererkennt. Merkwürdig fremd kommt einem seine eigene Stadt vor und das liegt nicht nur an all den Bildern, die andere Filmemacher vor Christian Petzold geschaffen haben. Die Architektur der Stadt wird entfremdet, dem urbanen Gefühl von Geschwindigkeit und Hektik setzt Christian Petzold ein abstraktes Bild von Raum und Zeit entgegen. In diesem Raum bewegen sich seine Schauspielerinnen und auch hierbei scheint es Uneingeweihten schwierig zu sein, einen Bezug zu den einzelnen Personen herzustellen. Es braucht seine Zeit, die Wege der Hauptdarstellerinnen zu verstehen. Der Film nimmt seinen Zuschauer ernst, fordert von ihm Konzentration - so wie man es von Christian Petzold gewohnt ist... MMM

 Der Inhalt

Zwei junge Frauen begegnen sich eines Morgens im Berliner Tiergarten. Nina, ein Heimkind, scheu und trotzig in sich gekehrt; und Toni, eine Diebin, die sich die Welt nimmt und keine Chance auslässt. Nina fühlt sich von Tonis impulsivem Wesen angezogen. Sie folgt Toni auf deren atemlosen Streifzügen durch die Stadt. Auch die elegante Françoise wandert durch Berlin. Sie gibt die Hoffnung nicht auf, ihre Tochter Marie wiederzufinden, die hier vor vielen Jahren entführt wurde. Pierre, ihr Mann, versucht mit sanfter Geduld sie zur Rückkehr nach Paris zu bewegen. Die Wege der drei Frauen kreuzen sich. Für einen kurzen, wirklichen Moment glaubt Françoise, in Nina ihre Tochter zu erkennen. Dann sind die Mädchen wieder im Großstadtgeschehen verschwunden. Doch Françoise und Nina werden sich noch einmal begegnen.




 Interview mit Christian Petzold


Wie ist die Idee zu ‚Gespenster’ entstanden?

Ende der 90er Jahre habe ich Rave von Rainald Goetz gelesen und einen Roman von Pavese, in dem es um zwei Künstler geht, die sich zwei Proletariermädchen als Modelle ins Studio holen. Diese Mädchen verbringen einen Sommer dort und infizieren sich ein bisschen an dieser Künstlerwelt. Als dann der Sommer vorbei ist und die Künstler dem Licht nachreisen, nach Nordafrika, lassen sie die Mädchen zurück, und die gehen zugrunde. Aus diesen beiden Sachen, der Geschichte von Pavese und dem Rave-Roman, der in der ganz frühen Love-Parade-Szene spielt, entwickelte sich ein erstes Exposé. Das hat damals aber niemanden interessiert. Später habe ich der Julia Hummer, mit der ich Die Innere Sicherheit gedreht hatte, von dieser Geschichte erzählt, und sie fand das interessant. Im Herbst 2000 sind wir zu einem Filmfestival geflogen, nach London, glaube ich, und ich habe ihr die ersten 20 Seiten einer anderen Geschichte gegeben, die ich mit Harun Farocki schrieb, nämlich die Geschichte einer Französin, die in Berlin ihre Tochter sucht. Und so ist das im Flugzeug nach London enstanden, wo ich mit ihr zusammen, kann man fast sagen, diese Geschichte weiter entwickelt habe. Harun Farocki hatte dann die Idee, diese beiden Geschichten zusammen zu bringen.




Man hat das Gefühl, dass allen Figuren in Ihrem Film etwas Gespensterhaftes eigen ist ...

Das ist ein interessanter Effekt. ... Wenn ein Film damit anfängt, dass zwei Mädchen von der Schule kommen, ihre Schultaschen wegwerfen und Eis essen gehen, dann haben die sofort eine soziale Definition. Aber die Mädchen, die Sabine Timoteo und Julia Hummer spielen, sind anders, die sind unbehaust, die haben keinen Raum, der sie definiert, keine soziale Definition. Die sind, so habe ich ihnen das erklärt, in einer Art Blase. Die wollen zu einem Casting, weil sie gerne gesehen werden möchten. Sie möchten gerne eine Identität bekommen, und sie können sich heute eine Identität nicht mehr so vorstellen, dass man eine Lehre macht oder so etwas ...

   Dieses „In-einer-Blase-Leben“, der Versuch, Kontakt mit etwas zu bekommen, was man Leben nennt, darum geht es in dem Film. Und jetzt ist der Effekt der, dass die anderen Figuren, die diese Mädchen berühren, plötzlich nicht mehr so aussehen, als ob sie alle ein tolles normales Leben führen – und nur diese beiden Mädchen keine Möglichkeit hätten, an diesem Leben teilzunehmen. Die Mädchen machen die gesamte andere Welt auch als „Blase“ kenntlich, sie zerlegen sie. Man hat das Gefühl, dass da, wo sie sind, ein Meter daneben ... dass da nicht die Normalität ist, sondern die nächste Gespensterzone anfängt. Ich weiß nicht, wie dieser Effekt jetzt im Film ist, aber bei dem, was ich bisher gesehen habe, finde ich, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

Sie drehen eher wenige Einstellungen einer Szene. Was bedeutet das z.B. für die Montage?

Ich habe in der Arbeit mit Bettina Böhler gelernt, die Einstellungen, die ich drehe, präziser und anders, ein bisschen anders zu drehen. Ich fange früher in der Szene an und lasse sie länger laufen, als ich es eigentlich geplant hatte. Wenn man 50 Einstellungen von einem Boxkampf hat, dann stülpt sich der Schnitt über das Bild, dann sind die Bilder nur noch Zeichen. Aber die Präzision, die man haben muss, dieses Spielen ... Mit den Darstellern ist es fast immer so, dass wenn die Darsteller das Gefühl haben: jetzt habe ich gespielt, was im Drehbuch geplant war, jetzt müsste eigentlich das „Danke!“ kommen ... dass wir dann die Szene noch ausatmen lassen. Früher habe ich es mir auch völlig verbeten, dass jemand den Schnitt vor mir macht. Ich wollte das absolute Verfügungsrecht haben. Als ich dann mit Bettina angefangen habe zu arbeiten, da hat sie schon geschnitten, während ich drehte, fast unmittelbar.

   Das war für mich im ersten Moment ... so eine Enttäuschung. Aber dann war es eine unglaubliche Erfahrung. Ich kann mich an die erste Szene erinnern, die so war, in Cuba Libre, die spielte im Berliner Ostbahnhof. Ich hatte eine klare räumliche Vorstellung vom Ostbahnhof, und so hatte ihn auch aufgelöst. Dann bekam Bettina das Material und baute den Ostbahnhof so um, dass ich ihn räumlich nicht mehr wiedererkannt habe, dass er einen eigenen Raum bekommen hatte. Auch die Art und Weise, wie sie die Blicke der sich dort Treffenden, wie sie die Begegnungen geschnitten hatte, war ganz anders, als ich es geplant hatte. Aber ich konnte die nächsten Drehtage ganz anders angehen, nachdem ich diesen Rohschnitt gesehen hatte. Ich wusste ja, dass die Figuren im Film sich wiederbegegnen würden ... und jetzt wusste ich, wie die erste Begegnung gewesen ist...




Warum drehen Sie ohne Monitor am Set?

Weil man sonst bescheuertes Zeug redet. Weil man sich dann nicht mehr die Schauspieler anschaut, sondern das, was später im Schneideraum passiert. Wenn wir im Schneideraum ein Bild vor uns haben, dann rede ich anders darüber, als wenn ich die Schauspieler vor mir habe. Im Schneideraum hat das Bild einen Wert, dann gehe ich nicht mehr in die Inszenierung. Wenn ich aber am Set auf einen Monitor starre – und dahinten spielen die Schauspieler – dann sage ich nur noch, „ein bisschen mehr nach rechts oder links ...“

     Dann erstirbt alles. Monitore sind immer Kontrolle. Im Schneideraum, wenn wir zwei Monitore haben, hört die Kontrolle schon auf, dann geht es um Kombinationen. Aber mit diesem einen Bild, auf einem Monitor am Set, weiß ich nicht mehr, warum eine Szene zwischen den Schauspielern nicht funktioniert. Ich weiß nur noch, dass sie nicht funktioniert. Meine Überlegungen dazu beziehen sich auf das Bild, nicht auf das Spiel. Ich gehe nach einer Szene auch immer zuerst zu den Schauspielern und schaue, wie das für die gewesen ist. Erst dann gehe ich zu Hans und frage, ob das technisch ok war. Die Wahrheit erfahre ich sowieso vom Tonmann, über den Kopfhörer. Ich finde den Ton viel wichtiger für das Spiel als das Bild. Ich höre am Tonfall, ob das gespielte Scheiße war oder ob irgendwas da war. Das kann man nicht sehen.





   Gespenster
 
Land/Jahr:D 2005
Regie: Christian Petzold ("Wolfsburg" 2002; "Toter Mann" 2001; "Die Innere Sicherheit "2000)
Darsteller: Nina … Julia Hummer
Toni … Sabine Timoteo
Françoise … Marianne Basler
Pierre … Aurélien Recoing
Oliver … Benno Fürmann
Kai … Anna Schudt
Heimleiterin… Claudia Geissler
Mathias … Philipp Hauß
Mathias’ Mutter … Victoria von Trauttmansdorff
Vorarbeiter… Peter Kurth
Agentin… Annika Blendl
Krankenschwester … Rosa Enskat  
Drehbuch: Christian Petzold, Harun Farocki
85 Min. FSK: 
Szenenbild: Kade Gruber , Kostümbild: Anette Guther , Casting: Simone Bär + Sylvie Brocheré , Musik: Stefan Will + Marco Dreckkötter, Mischung: Martin Steyer, Ton: Andreas Mücke-Niesytka, Steadicam: Tilmann Büttner
Eine Coproduktion der SCHRAMM FILM Koerner & Weber mit Les Films de Tournelles, Bayerischer Rundfunk/ARTE + ARTE France Cinéma, Medienboard  Berlin-Brandenburg, BKM + FFA Im Verleih der Piffl Medien
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http://www.german-cinema.de/archive/film_view.php?film_id=1164
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Die innere Sicherheit DVD EUR 19,99
 
 
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