Im Umfeld von Straßenkindern, wo ich zu meinem Spielfilmprojekt „Anonym (AT)“ recherchiert habe, traf ich Menschen, deren Biografien, Talente, Lebensphilosophien sowie deren Freude, Verzweiflung und Kraft mich sehr berührten. Ich war überrascht, wie viele von ihnen nicht den Klischeevorstellungen entsprachen, die man über Obdachlose leicht mit sich herumträgt. Und erstaunt, dass bei mir selbst viele solcher Vorurteile im Hinterkopf herumspukten. Obwohl die körperlichen und seelischen Schädigungen ihrer extremen Lebensumstände unübersehbar waren, begeisterten mich ihre Intelligenz und künstlerischen Fähigkeiten. Menschen wie „du und ich“, die unter anderen Umständen vielleicht ebenso andere Lebenswege eingeschlagen hätten. Unmittelbar entstand das Bedürfnis, ihnen eine Stimme zu geben. Und einen Raum, aber nicht einen privaten, sondern einen abstrakten, in dem alle Konzentration auf ihren Persönlichkeiten liegen sollte. Wie auf den Porträtfotos aus „The American West“ von Richard Avedon. Deshalb erzählen Sunny, Toni, Krümel, JJ, Stöpsel, Soja und Za im Studio vor neutralem |
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Hintergrund erst einmal über sich selbst. Und so entstehen „lebende“ Porträtfotos. Oder Porträtfilme. Wie in einer Ausstellung. Die Auswahl der „Fälle“ aus diesem großen Spektrum von Lebensaltern und –formen war ganz subjektiv und erhebt keinen Anspruch auf statistische Repräsentanz. Zum Beispiel Za, die mit richtigem Namen Elisabetha heißt. Die mit dreizehn anfing, nach der Schule mit ihrer Freundin Assi auf den Alexanderplatz zu gehen, mit vierzehn das Musikgymnasium abbrach, von zu Hause auszog und bei ihren Kumpels auf dem Alex schlief. Oder Stöpsel, die jahrelang am Breitscheidplatz schnorrte, um Essen und Drogen zu kaufen. Heute lebt sie mit Mann und fünf Kindern im Wedding. Mit Meldeadresse. Oder der einunddreißigjährige Krümel, der nach zwanzig Jahren Obdachlosigkeit immer noch da übernachtet, wo es gerade möglich ist. Und sagt: „Ich fühle mich nirgendwo zu Hause.“ Aber unabhängig von allen Veränderungen ihrer Lebensumstände bleiben alle von der Erfahrung der Straße geprägt. Maria Speth/Regie |